Wer hinschaut, wo andere wegschauen, wer hilft, wo andere tatenlos bleiben, wer fragt und nachprüft, wo andere schweigen, ist der ein Querulant? Zeigt der Mut oder bloss Selbsttreue? Fürchtet jemand, jener könnte ein Vorbild werden? Einer wie Muhammad Ali, der den Kriegsdienst für Vietnam verweigerte und viel Ärger bekam. 1971 war er in Zürich. Welche Strasse trägt seinen Namen? In der Cooperativa, wo sich der europäische antifaschistische Widerstand traf, bekam Franca Magnani eine Ahnung von Menschen, die den Menschen wirklich freilassen wollten. Was haben uns eine Sabina Spielrein und eine Vera Figner, eine Nadeschda Suslowa oder ein Otto Gross heute zu sagen? Wer hat Angst vor einem Denkmal oder einer Tafel zu Ehren eines Josef Schmidt, eines Carl Lutz, eines Paul Grüninger?
Die Schweiz und Zürich waren nicht nur eine Drehscheibe für Schieber und Touristen, sondern auch ein Hort für Bedrängte, waren Vorbild, haben Schutz geboten und von Neuerungen profitiert, waren Laboratorium und schliesslich Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen, humane und weniger humane. Stichworte: Frauenstudium, Psychoanalyse, Schauspielhaus, aber auch Eugenik. Georg Büchner schwärmte 1837 vom republikanischen Geist und erleichtert notierte Leonhard Frank 1915: "Hier schien selbst in der Luft etwas zu sein, das es in Deutschland nicht gab. Die Menschen in den Strassen hatten eine andere Haltung und blickten anders, und der Gesichtsausdruck war ruhig. Es schien, als hielten sie das Grundrecht zu leben und zu sein, wie sie waren, für eine Selbstverständlichkeit. War es Freiheit? Auch die würgende Armut, die den Rücken krümmt und das Auge trübt, schien es hier nicht zu geben, auch der Trambahnschaffner hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und ein klares Auge. War hier die Verteilung der Güter vernünftiger? Jedenfalls schienen hier, in der demokratischen Schweiz, die Menschen frei zu atmen." Schon Vera Figner war angetan von der Offenheit in den 1870er Jahren, von anatomischen Vorlesungen, aber auch von der politischen Solidarität und von Formen der Selbstorganisation, die sie hier einübte. Hundert Jahre später ein ganz anderes Bild. Luciano Alban war der Liebe in die Schweiz gefolgt. Er vergleicht den Umgang der Schweizer und der Deutschen mit den Italienern: "Die Sprache war dieselbe, aber die Unterschiede hätten nicht krasser ausfallen können. Die Deutschen waren umgänglich, neugierig, die Schweizer schnitten einen regelrecht, sie waren voller Vorurteile, sagten, die Italiener würden Tomaten in den Badewannen ziehen und auf dem See gefangene Schwäne braten. Sie gaben einem das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. So war die Atmosphäre." (Nach Vecchio)
Und wer hat hier noch gewirkt, wessen Spuren lassen sich ausserdem entdecken?
Quellen: Figner, Vera: Nacht über Russland. 1985, S. 38ff. - Frank, Leonhard: Links wo das Herz ist. 1952, 1984, S. 66. - Guggenheim, Kurt: Alles in allem. 1952-1955 - Magnani, Franca: Eine italienische Familie. 1990. - Vecchio, Concetto: Jagt sie weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten. 2020, S. 158.
Exkurs 1: Migranten, Flüchtlinge, Reisende
Exkurs 2: Vielschichtige Psychologie
Exkurs 3: Eugenik, Moral, Kontrolle
Exkurs 4: Utopien, Ahnungen, Bewegungen
- Vera Figner
- Nadeschda Suslowa
- Fritz Brupbacher
- Friedrich Erismann
- Max Frisch
- Paulette Brupbacher
- Anny Klawa-Morf
- Sabina Spielrein
- Franca Magnani
- Iris von Roten
- Fritz Hochwälder
- Joseph Schmidt
- Vladimir Rosenbaum
- Muhammad Ali
und weitere...
© Peter Boller 2024